ADHS in der Beziehung: Vom “Chaos-Manager” zurück zum Liebespaar – Wie Paartherapie hilft

Ablauf einer Paartherapie

ADHS in der Beziehung: Vom "Chaos-Manager" zurück zum Liebespaar – Wie Paartherapie hilft

Fühlst du dich in deiner Partnerschaft manchmal eher wie ein Projektmanager, eine persönliche Assistentin oder ein Elternteil, statt wie ein gleichberechtigter Partner?

Du erinnerst an Termine, räumst hinterher, koordinierst den Haushalt und fühlst dich trotzdem (oder gerade deswegen) chronisch erschöpft und übersehen?

Oder bist du vielleicht der Part, der sich ständig kritisiert fühlt? Der das Gefühl hat, es nie richtig machen zu können, egal wie sehr er sich anstrengt? Der sich für seine Vergesslichkeit oder seine Impulsivität schämt und sich deshalb immer weiter zurückzieht?

Wenn dir das bekannt vorkommt, bist du nicht allein. In meiner Praxis für Paartherapie bei Hannah Gensch ist das einer der häufigsten und schmerzhaftesten Teufelskreise, die ich sehe: die Dynamik einer Partnerschaft, in der ein Partner (diagnostiziert oder undiagnostiziert) ADHS hat.

Die gute Nachricht: Es ist niemandes Schuld. Die bessere Nachricht: Man kann diesen Kreislauf durchbrechen.

 

Das Missverständnis: Es ist keine Absicht, es ist Neurobiologie

 

Das größte Gift für Beziehungen mit ADHS ist die Interpretation des Verhaltens. ADHS ist keine Charakterschwäche oder mangelnde Liebe. Es ist eine neurobiologische Besonderheit, die vor allem die “Exekutivfunktionen” des Gehirns betrifft:

  • Organisation & Planung: Was für den einen logisch ist (“Man muss doch nur…”), ist für das ADHS-Gehirn ein unüberschaubarer Berg.

  • Zeitmanagement: “Zeitblindheit” ist ein reales Phänomen. Fünf Minuten fühlen sich an wie eine Stunde, oder umgekehrt.

  • Impulssteuerung & Emotionen: Gefühle sind oft intensiver, Frustration bricht schneller durch (emotionale Dysregulation).

  • Aufmerksamkeitssteuerung: Das Gehirn “hakt” sich bei spannenden Dingen fest (Hyperfokus) oder lässt sich von allem ablenken (Distraktibilität).

Wenn der Nicht-ADHS-Partner diese neurobiologischen Symptome als persönliche Ablehnung interpretiert (“Dir ist es einfach egal, was ich sage”), beginnt die Abwärtsspirale.

 

Die Statistik der Erschöpfung: ADHS in Zahlen

 

Das ist keine reine Gefühlssache, die Daten sind eindeutig.

Studien, unter anderem vom führenden ADHS-Forscher Dr. Russell A. Barkley, zeigen seit Jahren, dass Partnerschaften, in denen ADHS eine Rolle spielt, eine signifikant geringere Beziehungszufriedenheit aufweisen als Kontrollgruppen.

Warum? Weil sich eine ungesunde Dynamik entwickelt. Die Autorin Melissa Orlov, die sich auf ADHS-Partnerschaften spezialisiert hat, fand in Umfragen heraus, dass über 60% der Nicht-ADHS-Partner sich in einer “Eltern-Kind-Dynamik” gefangen fühlen.

Sie übernehmen die Rolle des “Managers” (das “Eltern-Ich”), während der ADHS-Partner in die Rolle des unzureichenden “Kindes” gedrängt wird. Diese Dynamik ist der Tod für Anziehung, Intimität und Respekt auf Augenhöhe.

 

Zwei typische Beispiele, die ich in der Praxis sehe

 

Um das greifbar zu machen, hier sind zwei Szenarien, die sich so oder ähnlich ständig abspielen:

Beispiel 1: Die vergessene Verabredung (Exekutivfunktion)

  • Situation: Ihr habt euch fest für 19 Uhr zum Essen verabredet. Dein Partner (mit ADHS) ist im Hyperfokus bei einem Videospiel oder Projekt und kommt 45 Minuten zu spät, weil er die Zeit komplett vergessen hat.

  • Deine Reaktion (ohne ADHS-Wissen): “Dir ist es völlig egal, dass ich hier warte. Unsere Verabredung ist dir nicht wichtig. Ich bin dir nicht wichtig.” (Interpretation: Mangelnde Liebe, Respektlosigkeit).

  • Reaktion deines Partners: “Das stimmt nicht! Ich liebe dich!” (Er verteidigt seine Absicht, nicht sein Verhalten). Er fühlt sich zu Unrecht beschuldigt, schämt sich für sein Versagen und reagiert defensiv oder zieht sich zurück.

  • Ergebnis: Ihr streitet über die Absicht (Liebe), statt über das Problem (Zeitmanagement).

Beispiel 2: Die “Explosion” (Emotionale Dysregulation)

  • Situation: Du bittest deinen Partner (mit ADHS) zum dritten Mal, den Müll rauszubringen.

  • Deine Reaktion (genervt): “Warum muss ich dir alles dreimal sagen? Es ist doch nicht so schwer!” (Kritik).

  • Reaktion deines Partners: Er explodiert. “Lass mich doch endlich in Ruhe! Du nörgelst nur noch!” (Impulsive Abwehr). Diese Reaktion steht oft in keinem Verhältnis zur eigentlichen Bitte.

  • Warum? Weil deine Kritik (die als Angriff auf seinen Selbstwert ankommt) ein Fass zum Überlaufen bringt, das bereits voll ist mit Scham über all die anderen “Fehler” des Tages.

  • Ergebnis: Du fühlst dich unsicher und behandelt wie der Feind. Er fühlt sich angegriffen und unverstanden.

In beiden Fällen fühlen sich am Ende beide Partner einsam, unverstanden und im Stich gelassen.

 

Wie Paartherapie bei ADHS konkret hilft

 

In der Paartherapie geht es bei ADHS nicht darum, den ADHS-Partner zu “reparieren”. Es geht darum, das System eurer Beziehung zu verändern, damit beide Partner sich wieder gesehen und sicher fühlen.

1. Übersetzen & Psychoedukation (Der “Aha-Moment”) Der wichtigste erste Schritt: Wir übersetzen. Ich helfe euch zu verstehen, was Symptom und was Absicht ist. Wenn der Nicht-ADHS-Partner versteht: “Es ist nicht mangelnde Liebe, es ist mangelndes Dopamin im Frontalhirn”, nimmt das dem Konflikt 90% seiner emotionalen Sprengkraft. Der Vorwurf der “Absicht” verschwindet und macht Platz für Empathie.

2. Die Eltern-Kind-Dynamik durchbrechen Wir stoppen das “Parenting”. Der Nicht-ADHS-Partner lernt, Bitten zu formulieren, ohne zu kritisieren oder zu managen. Der ADHS-Partner lernt, Verantwortung für sein “System” zu übernehmen, ohne in die Verteidigungshaltung zu schießen. Wir beenden den Kreislauf aus Kritik und Scham.

3. Gemeinsam Strukturen entwickeln (Die funktionieren) Ein ADHS-Gehirn braucht externe Strukturen, weil die internen schwächer ausgeprägt sind. “Sich einfach mehr anstrengen” funktioniert nicht. Stattdessen entwickeln wir gemeinsame Strategien:

  • Ein geteilter digitaler Kalender (der wirklich genutzt wird).

  • Visuelle Erinnerungen (Whiteboards in der Küche).

  • Feste “Orga-Termine” (z.B. Sonntagabend 15 Minuten), um die Woche zu planen – damit der Rest der Woche frei von Logistik-Stress bleibt.

  • “Body Doubling”: Aufgaben (wie die Steuererklärung) gemeinsam im selben Raum machen, weil die Anwesenheit des anderen dem ADHS-Gehirn hilft, im Fokus zu bleiben.

4. Die Verbindung wiederfinden (Das Ziel) Wenn der “Manager” und das “Problemkind” den Raum verlassen, können das Liebespaar, die Freunde und die Liebhaber wieder eintreten. Wenn der Fokus weg von den Aufgaben und hin zur Verbindung rückt, entsteht wieder Raum für Nähe, Spaß und Intimität.

 

Eure beste Investition

 

ADHS ist nicht der Grund für eure Probleme – aber es ist oft der Katalysator, der die alltäglichen Belastungen einer langen Partnerschaft verschärft.

Wenn ihr in dieser Dynamik feststeckt, wartet nicht, bis die Erschöpfung die Zuneigung komplett erstickt hat. In der Paartherapie lernen wir, die Stärken des ADHS (wie Kreativität, Spontanität und Leidenschaft) wieder wertzuschätzen und für die Schwächen (wie Organisation) ein gemeinsames, faires System zu bauen.

Ich freue mich darauf, euch auf diesem Weg zu begleiten und die Verbindung zwischen euch wieder spürbar zu machen.

+49 151 17725763