Wie Chronische Krankheiten Beziehungen beeinflussen – veröffentlicht Süddeutschen Zeitung

Wie Chronische Krankheiten Beziehungen beeinflussen – veröffentlicht Süddeutschen Zeitung

An jenen Morgen, an dem mein
Praxistelefon ungewöhnlich
früh klingelte, erinnere ich
mich noch gut. Esmeldete sich
eine junge Frau, ihre Stimme
klangangespannt,beinahe atemlos,verunsichert:
„Ich weiß nichtmehrweiter“, sagte
sie. „Bei mir wurde Diabetes Typ 2 diagnostiziert.
Wir, beziehungsweise er oder
auch ich, kommen damit einfach nicht
klar.“ DieFrauerzähltemir vonihremPartner,
den sie über alles liebe. Doch seit die
chronische Krankheit vor acht Monaten
Teil ihres Alltags gewordenwar, schien ihnen
alles zu entgleiten – auch ihreGefühle
füreinander.
In der ersten Sitzung wenigeTage späterbegegneten
mirzweiniedergeschlageneMenschenEndedreißig.
Sie, einehochgewachsene,
sportliche junge Frau mit
langen braunen Haaren, die ihr über die
Schultern fielen,war gereizt und tief enttäuscht.
„Die Diagnose hat all unsere Pläne
zunichtegemacht. Wir wollten durch
Südostasien reisen, danach in ein kleines
Häuschen in der Vorstadt umziehen, eine
Familie gründen. Und jetzt?“ Sie fühlte
sich in ihrer Freiheit beschnitten. Jeden
Tagmusste sie Insulin messen, den Blutzucker
kontrollieren, die Ernährung umstellen,
regelmäßig zum Arzt gehen –
schnell zog das Thema sämtliche Aufmerksamkeit
auf sich. „Meine Krankheit
dominiert unser ganzes Leben!“
Er hingegen, ein hagererMannmit tiefen
Augenringen, der älter wirkte, als er
in Wirklichkeitwar, schien zerrissen zwischen
Sorge undUnverständnis. Er wusste
nicht, wie er die richtige Balance zwischen
Unterstützung und Freiraum finden
sollte. Mit besetzter Stimme sagte er:
„Ich habe solche Angst um sie.“
Gleichzeitig jedoch drängte er sieungewollt
in eineEcke. JedeungefragteBemerkung
über ihre Essenswahl oder eine
freundliche Erinnerung, bitte rechtzeitig
den Blutzucker zu messen, fühlte sich für
sie wie Bevormundung an. Häufig fielen
von ihr Sätze wie „Du bist nicht mein Vater,
sondern mein Freund“ oder „Ich
weiß,was ich tue“.
Wie sich schnell herausstellte, befandensich
beideineinemKarussell ausVorwürfen
– eine Entwicklung, die ich schon
des Öfteren in ähnlichen Fällen beobachten
konnte: Sobald eine chronische Erkrankung
bei einem Paar ins Spiel
kommt, verändert sich das Machtgefüge
innerhalb der Beziehung. Derjenige, der
erkrankt ist, verliert einen Teil seiner
Selbstbestimmtheit,während der gesunde
Part häufig in eine Helfer- oder Kontrollrolle
fällt. Beide Seiten möchten eine
Lösungfinden.Dochdasführt oft zuKonflikten.
Ängste, Schuldgefühle,Unsicherheiten,
aber auch das Gefühl ständiger
Überforderung schleichen sich in die Beziehungsdynamik.
Dahinter steht nicht selten das Gefühl
von Ohnmacht.Während Typ-1-Diabetes
meist genetische oderautoimmuneUrsachenhat,
tritt Typ-2-Diabeteszwar in vielen
Fällen infolge eines Lebensstils auf,
der unter anderem durch Bewegungsmangel
und ungesunde Ernährung geprägt
ist. Doch gibt es auch – wie in diesem
Fall – genetische Dispositionen, sodass
nicht alles „in der eigenen Hand“
liegt.
Für Betroffene können Diagnosen wie
diese zu einem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit
führen–auchdann,wenn sie
dieKrankheit nichtdurchdeneigenenLebensstil
begünstigthaben. Trotzdemquälensie
Fragenwie:Washabe ichfalsch gemacht,
dass ich erkrankt bin?War ich zu
bequem, zu nachlässig, habe ich mich zu
wenig bewegt, zu viel gearbeitet?
In einer Partnerschaft kann dies zu
Schuldgefühlen führen, die sich gegen einenselbst
oder gegen denPartner richten.
Nicht selten kommen dann Vorwürfe auf
wie: „Wenndumichwirklich unterstützen
würdest, dann würdest du mir dabei helfen
meinen Weg zu finden und mir nicht
deinen Lösungen und deinen Weg aufzudrücken.“
Andererseits kann der erkrankteMensch
sich auch schämen, dem anderen
zur Last zu fallen – ein enormer
Druck, der die Beziehung strapaziert.
Genauso erging es auchdiesem Paar. In
unserer ersten gemeinsamen Sitzung bat
ichbeide, ihrePaarthemen,die sie als problematisch
empfanden, klar zu formulieren.
Zudem sollte dies ohne Unterbrechung
oder Wertung des jeweils anderen
passieren, um einen offenen Raum zu
schaffen. Es kam zutage, dass er ungefragtangefangenhatte,
sich wie einManagerumihreKrankheit
zukümmern.Erinformierte
sich im Internet, kaufte Ratgeber
und erkundigte sich bei Ärzten nach
den neuesten Therapien. „Am Anfang habe
ichmich dadurch geborgen und geliebt
gefühlt, doch seit einerWeileüberstimmt,
verbessert oder maßregelt er mich“, klagte
sie und fügte nach einer kurzen Pause
hinzu: „Früher war ich seine Partnerin,
jetzt fühle ich mich wie seine Patientin.“
Für sie war es, als hätte ihr Partner die
Regie in ihrem Leben übernommen.
Gleichzeitig traute sie sich nicht, dieses
Thema offen anzusprechen, weil sie ihn
nicht verletzen wollte. „Ich weiß, dass er
mich eigentlich nur beschützen will.“
Er hingegen hatte starke Gefühle des
Versagens entwickelt,daer sichsobemühteundmittlerweile
vonihr nur noch abgewehrt
wurde. Vorschläge, die er machte,
liefen ins Leere. Er fühlte sich machtlos,
ihrzuhelfen,undnicht gesehen.„Ichkümmere
mich um alles – um sie … Ich liebe
sie.“ Doch obwohl er seine Liebe beteuerte,
konnte man spüren: Durch die anhaltenden
und wiederkehrenden Konflikte
hatten beide sich in den vergangenenMonaten
emotional voneinander entfernt.
DieMethode, sichabwechselndundungestört
zu Wort kommen zu lassen, ohne
sofort zu kommentieren, brachte allerdingsauch
verbindendeMomente. SiebeschriebihrenWunschanihn
folgendermaßen:
„Ich will selbst entscheiden,wannich
meinen Blutzucker messe und wenn ich
mal ein Stück Schokolade nasche, ist das
auchokay. Ichmöchte nichtimmeranmeine
Krankheit denken. Und ich fühle mich
von dir in eine Ecke gedrängt.“ Als sie ihr
Anliegen formulierte, sah sie bedrückt zu
Boden, als hätte sie Angst davor, dass er
sie als undankbar abtat.
Doch das tat er nicht. Er begann vielmehr
zu verstehen, dass seine fürsorglichen
Hinweise und regelmäßigen Erinnerungen
bei ihr ganz anders ankamen, als
er es beabsichtigt hatte. Seine Ängste bliebenjedoch:
„Mirist klar,wie gefährlichDiabetes
werden kann, wenn man ihn auf
die leichte Schulter nimmt. Ich habe einfach
Angstumdich.“ Langsam, ganz langsam,
begann der großeKnoten bestehend
aus wechselseitigen Schuldzuschreibungen
sich zu entwirren.
Als Therapeutin sehe ichmeineAufgabe
genau darin: wieder einen Raum für
Verständigung zu schaffen. Und darin,
Paare an ihre eigenen Stärken und Ressourcen
zu erinnern. Gerne frage ich sie
in solchen Krisensituationen: „Was hat
euch denn einst miteinander verbunden?
Welche Eigenschaften, welche Momente
haben euch als Team zusammengeschweißt?“
Denn gerade unter dem
Druck einer chronischen Krankheit vergessenPaareoft,
welcheschönenMomente
und Gemeinsamkeiten – jawelche Magie
– siemiteinander verbindet.
Der Kern meiner Arbeit besteht ausdrücklich
nicht darin, Paare wieder in die
alte Beziehung zurückzuführen.Denndie
alte Beziehung mit den alten Regeln gelten
häufig nach einschneidenden Erlebnissen
nicht mehr. Das heißt, es braucht
neue Formen der Kommunikation, eine
neue Sprache der Liebe, eine neue Aufgabenverteilung.
In den folgenden vier Sitzungen
erarbeiteten wir deshalb einige
Punkte, die den Alltag erleichtern und
Konflikte minimieren sollten, umwieder
mehr Platz für positive Momente und
Emotionen zu schaffen. Ich machte den
beidenklar, dass es wichtigwar,die belastenden
Anteile und Themen in Zukunft
nichtauszuklammernoder garzuignorieren,
sondern ihrer Krankheit einen klaren
Rahmen innerhalb der Partnerschaft
zu geben. Ich empfahl ihnen, feste Zeiten
oder Rituale einzuführen, in denen sie
sich austauschen konnten: Wiewar deine
Woche? Wie hast du dich gesundheitlich
gefühlt?Wo brauchst du Unterstützung?
Eine klare und respektvolle Ausspracheist
ineiner belastetenBeziehungnämlich
besonders wichtig. Deshalb sollten
Paare, bei denen einer von beiden chronisch
erkrankt ist, unbedingt vereinbaren,
wann Feedback willkommen ist und
wie weit es gehen darf. Ein liebevoller
Stupser kann hilfreich sein, wird jedoch
schnell als Einmischung empfunden,
wenn er sich wiederholt oder ungefragt
kommt.
Mindestens ebenso wichtig ist es allerdingsauch,
Zeitfenstereinzuplanen, indenen
die Krankheit bewusst ausgeklammert
wird, etwa beim gemeinsamen
Abendessen oder beim Spazierengehen.
Die beiden brauchten Zeit füreinander, in
der nicht die Sorge, sondern Liebe und
Leichtigkeit regierten.
Ich empfahl ihnen außerdem, die VerteilungvonAlltagsorganisationundHaushalt
abzusprechen und fair zu verteilen.
Denn wer an Diabetes erkrankt ist,
brauchtzwar in einigenDingenUnterstützung
(zumBeispiel hilft es,wenn auch der
Partner seine Ernährung umstellt oder
mit joggen geht), möchte aber nicht das
Gefühl haben, gar nichts mehr allein tun
zu können und ständig bevormundet zu
werden. Er hatte aber aus Angst und Fürsorge
viele ihrer Aufgaben übernommen,
zum Beispiel das Einkaufen – auch aus
Sorge heraus, dass sie die „falschen“ Dinge
einkauft.
Beide stimmten zuundso machten wir
uns in der vierten Sitzung an die Verteilung
der Aufgaben. Er hatte inzwischen
verinnerlicht, dass ihre Krankheit kein
Grundwar,bestimmteAufgabenimHaushalt
nicht mehr zu übernehmen, weil sie
zu „schwer“ oder „anstrengend“ waren.
Außerdem vereinbarten beide, dass auch
er seine Grenzen klar benennen und um
Entlastung bitten sollte, wenn er sich
überfordert fühlte.
Das Schöne an den beiden war: Als wir
die neuen Regeln einmal festgelegt hatten,
konnte ich regelrecht dabei zusehen,
wie sich ihre Situation von Sitzung zu Sitzung
entspannte. Beide hatten erkannt,
dass niemand nur Patient oder Pfleger
sein möchte, sondern immer auch PartneroderPartnerin.
Er brachte das irgendwann
so auf den Punkt: „Ich bin so froh,
dass wir jetzt wissen, wann ich etwas sagendarfundwannes
besser istzu schweigen.“
So entstand mit der Zeit ein Miteinander,
das beidenRaumfür Eigenständigkeit
und Fürsorge bot.
In derVorweihnachtszeitbekamicheine
Postkarte aus Laos von den beiden. Sie
berichteten mir von ihrer Fahrt auf dem
Mekong und dass er ihr dort bei Sonnenuntergang
einen Heiratsantrag gemacht
habe.
In dieser Serie erzählen Paartherapeuten
von Fällen, die ihnen besonders in Erinnerung
geblieben sind. Ohne Vertrauensverhältnis
ist therapeutisches Arbeiten nicht
möglich. Die Therapeuten haben das Einverständnis
ihrer Klienten eingeholt, ihre
Geschichtenzu erzählen.UmdieAnonymität
zu wahren, wurden Details verändert.
DieDialogeder Klienten sindnachempfunden.
Hannah Gensch arbeitet seit
17 Jahren als Paartherapeutin.
In ihrer Praxis im Münchner
Süden bietet sie Paar- und
Einzeltherapie an und ist
Expertin im Podcast „Gesagt.
Gefragt – Die Podcast-Therapie“.
FOTO: MAIWOLF
DEFGH Nr. 32, Samstag/Sonntag, 8./9. Februar 2025 51
Liebe&Leben
SCHÖN DOOF
Nackte Dummheit
Bianca Censori hat sich
bei den Grammys ausgezogen.
Ein Akt der
Selbstermächtigung? Nun ja.
BEZIEHUNGSWEISE
In dieser Serie erzählen
Paartherapeuten von Fällen,
die ihnen besonders in
Erinnerung geblieben sind.
„Ich habe solche
Angst um sie“
Ein Mann Ende dreißig macht sich Sorgen um seine
Partnerin, die an einer chronischen Erkrankung leidet.
Mit seiner Fürsorge droht er die Liebe zu ersticken.
Kanye West und Bianca Censori.
FOTO: JORDAN STRAUSS/AP/DPA
ILLUSTRATION: CHRISTINA BAERISWYL
FOTO: ADOBE STOCK
Bereit für die Schule? Vielen
Eltern bereitet diese Frage
Kopfzerbrechen  Seite 52
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